Vorfahrtsregel: „Rind vor Bahn“

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Geschichten aus dem alten Wallenhorst

Geschichten aus dem alten Wallenhorst, das sind oft die Begebenheiten aus dem Alltag der Menschen. Nachstehende Geschichte handelt von der Hollager Ortspolitik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Damals gab es noch keine gewählte Gemeindevertretung und keine Parteien, in denen „Politik gemacht“ wurde. Für Entscheidungen war die Gemeindeversammlung zuständig, in der sich die stimmberechtigten Männer des Ortes nach vorheriger öffentlicher Bekanntmachung trafen. An der Spitze der Gemeinde stand der Vorsteher, der Vorgänger der heutigen Bürgermeister.

In Hollage entwickelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein kleines Industriegebiet. An der Straße von Wallenhorst nach Halen westlich des jetzigen Nachtigallenweges betrieb der Haster Unternehmer Carl Möller seit 1907 einen Kalkofen. Die Firma Berentelg aus Recke beabsichtigte den Bau einer Ziegelei gegenüber dem Kalkofen. Der für die Ziegelei benötigte Ton sollte im Poller abgebaut werden. Das Jahr 1913 war für Hollage und Wallenhorst noch kein Zeitalter, in dem Kraftfahrzeuge auf den Straßen zum Alltag gehörten. Transportprobleme löste man mit Pferdefuhrwerken. Der im Poller abzubauende Ton sollte mit einer Feldbahn zur Ziegelei gefahren werden. Für diese Bahn benötigte das Unternehmen auf dem Gemeindeweg, der heute als Pollerweg bekannt ist, ein Geleise. Dazu aber war die Zustimmung der Gemeinde erforderlich.

Von der Gemeindeversammlung wurde am 18. Januar 1913 der Antrag in die Wegekommission verwiesen. Diese Kommission „verstärkte“ man um die Interessenten, d.h. die Kolone Broxtermann und Langkamp und die Neubauern Bergmann und Strößner. In der Kommission wurde offenbar schnell verhandelt,so dass die Gemeindeversammlung unter der Leitung des Vorstehers Kolon Gerhard Kollenberg bereits am 25. Februar 1913 die Anlegung der Feldbahngeleise in einer Spurbreite von 0,60 m an der östlichen Seite des Weges genehmigte. Interessant sind die Auflagen dieser Genehmigung, die das Ganze erst zu einer richtigen Geschichte machen. Dass die Überwegungen zu den anliegenden Grundstücken zu pflastern und instand zu setzen waren, ist verständlich. Den Fabrikanten Berentelg und Schnepper – heute würde man sie als Investoren bezeichnen – wurde dabei zur Auflage gemacht, dies alles so auszuführen, dass von den Beteiligten – sprich von den Anliegern – keine Klagen geführt werden könnten.

Das Kernproblem war aber wohl, ob die Feldbahn und das auf den Weiden grasende Vieh, das von den Interessenten über die Straße von und zur Weide getrieben wurde, miteinander ohne Konflikte leben konnten. Die Herren Berentelg und Schnepper bekamen daher die Genehmigung mit der Einschränkung, dass die Feldbahn nur mit Hand- oder Pferdekräften, nicht aber mit „Dampfkraft oder dergleichen“ zu benutzen sei. Ferner habe die Feldbahn bei Viehtriften die Fahrt auf dem Geleise zu unterbrechen, um ein Scheuwerden des Viehs zu verhüten.

Die Ziegelei wurde 1914 in Betrieb genommen. An die Zeiten, in denen die Bahn mit Pferden gezogen werden musste, sind heute in der Bevölkerung keine Erinnerungen mehr vorhanden. Die älteren Hollager erinnern sich aber noch gut an den „Teckel“, wie die von einer Lokomotive gezogene Bahn genannte wurde. Denn die „Dampfkraft“ durfte nach einer Übergangszeit von 6 Jahren doch noch eingesetzt werden, nachdem die 1919 erstmals gewählte Hollager Gemeindevertretung am 6. Mai 1920 Motoren als Betriebskraft genehmigte. Ob die Vorfahrtsregelung, wonach der Teckel an Viehtriften dem Milchvieh den Vortritt zu gewähren und zu halten hatte, aufgehoben wurde, ist nicht überliefert.

So geschah es in Hollage, dass im Zeitalter der ersten Gewerbeansiedlung das liebe Rindvieh an der Ortspolitik beteiligt war.

Für die weniger Ortskundigen sei gesagt, dass die Tonabbaugrube im Poller heute als „Schwarzer See“ bekannt ist.

Franz-Joseph Hawighorst

Quelle: Bürger-Echo 23.3.2005