Noch einmal: Lechtinger Kindermord von 1833

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Wie schied der Serienmörder aus dem Leben?

WALLENHORST
Vor einer Woche stellten wir an dieser Stelle im Nahmen dar Serie „Was sagt uns der Straßenname?“ den Schulweg in Lechtingen vor und erwähnten dabei auch, dass in dem kleinen Waldstück, das der Schulweg durchquert, am 9. September 1898 ein Doppelmord geschah. Dazu erreichten uns Rückmeldungen einiger Leser, die einen von unserer Darstellung abweichenden Kenntnisstand haben über die Art und Weise, wie der Serienmörder Ludwig Tessnow aus dem Leben schied.

Unstrittig ist der in mehreren Gerichtsinstanzen festgestellte Tathergang: Die beiden siebenjährigen Mädchen Elise Langemeyer und Elise Heidemann wurden morgens auf dem Weg zur Schule von Tessnow überfallen und getötet. Die Eltern erkundigten sich mittags in der Schule, warum ihre Töchter noch nicht zurück seien. Da mussten sie erfahren, dass die beiden dort gar nicht erschienen waren. Bei der Suchaktion fand man bald die Leiche der Elise Heidemann und gegen 19 Uhr auch die des anderen Mädchens. Beide waren entkleidet und auf unvorstellbar grausame Weise zerstückelt worden.

Noch am selben Abend geriet der reisende Tischlergeselle Ludwig Tessnow (geboren 1872, gestorben 1904? 1939?) in Verdacht, weil man einen Knopf seiner Jacke am Tatort fand und die Kleidung rötliche Flecken aufwies. Die Flecken erklärte er als Tischlerbeize. Man musste ihn aus der Haft entlassen, weil der Nachweis von Blutspuren noch nicht möglich war. Drei Jahre später wurde Tessnow erneut verhaftet, als der Staatsanwalt ihm eine Mordserie auf Rügen zur Last legte. Die wiederum auf seiner Kleidung festgestellten dunkelroten Flecken bezeichnete er als altes Rinderblut und eingetrocknete Tischlerbeize. Dem Ersten Staatsanwalt von Greifswald kam die Sache bekannt vor. Er zog die Akten aus Osnabrück bei. Der Lechtinger Kindermord wurde neu aufgerollt

Verzweifeltes Geschrei


Mittlerweile entdeckte neue Untersuchungsmethoden erlaubten jetzt den Nachweis von Menschenblut Tessnow wurde des Doppelmordes in Göhren auf Rügen wie auch desjenigen in Lechtingen überführt und 1902 zum Tode verurteilt. Ob das Todesurteil tatsächlich vollstreckt wurde, wird in verschiedenen Quellen unterschiedlich dargestellt. Wir befragten den Historiker Andreas Albers, der den Vorfall anhand von Zeitungsberichten recherchiert hat und darüber einen Aufsatz in den „Wallenhorster Geschichten“, Band 1, veröffentlicht hat.

Nach seinen Erkenntnissen sollte das Urteil am 17. Oktober 1903 vollstreckt werden. Als der Staatsanwalt dem Verurteilten davon Mitteilung machte, brach Tessnow in verzweifeltes Geschrei aus und tobte die ganze Nacht hindurch. Auf Verdacht auf einen epileptischen Anfall wurde er in die Greifswalder Uni-Klinik eingewiesen. Die Hinrichtung wurde verschoben, weil sie nicht an einem Kranken vollzogen werden durfte. Psychiatrische Untersuchungen und eine Wiederaufnahme des Verfahrens hätten dazu geführt, dass 1907 die Todesstrafe in lebenslange Haft in einer geschlossenen Anstalt umgewandelt wurde.

Bei einem Blick ins Internet stößt man auf weitere Veröffentlichungen,  die ein buntes Bild ergeben: Teilweise wird behauptet die Todesstrafe sei in einer Berufungsverhandlung vor dem Reichsgericht in Leipzig im März 1904 bestätigt und das Urteil im gleichen Jahr auf dem Hof des Greifswalder Gefängnisses vollstreckt worden. Anderswo heißt es, er sei – mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung „heimlich“ – zu lebenslanger Zuchthausstrafe „begnadigt“ worden. Es soll auch Hinweise darauf geben, dass Tessnow als Patient der Landesheilanstalt Stralsund 1939 Opfer des NS-Euthanasieprogramms wurde. Wer es genau wissen will, wird sich mit Gerichtsakten aus Greifswald befassen müssen, so sie denn noch vorhanden sind.

von Joachim Dierks

Quelle: NOZ vom 26.6.2015