Radfahrer schalten hier in den ersten Gang
jod WALLENHORST
Wer beim Straßennamen „Stiegte“ an das bajuwarisch-österreichische „Stiege“ für „Treppe“ denkt, liegt nicht falsch. Die „Stiegte“ leitet sich vom niederdeutschen „stiegen“ gleich „steigen“ her. Die Straße in Rulle-Ost überwindet eine Steigung von rund 15 Metern und führt auf den Höhenrücken des Ruller Loh.
Die „Stiegte“ ist die südliche Verlängerung der Straße Ostenort. Sie beginnt an der Vehrter Landstraße (L109) und stellt nach der Überwindung des Lohs eine Verbindung zum Nettetal her, wenn man weiter der Straße „Anne Wiewellen“ folgt. Der Ruller Loh, heute ein Naturdenkmal, hatte noch bis in die 1960er-Jahre wirtschaftliche Bedeutung als Steinbruch. Kalkgestein wurde als Baumaterial und zur Kalkgewinnung abgebaut. Auf dem Nordabschnitt der „Stiegte“ nahe der Vehrter Landstraße fand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine kleine Besiedlung statt. Begonnen hatte sie mit dem Bau der Ost-Ruller Schule, die 1874 zunächst auf der Ostseite der Straße errichtet wurde und dann 1921 in einen Neubau auf der anderen Straßenseite wechselte. Bis 1972 wurden hier die Ost-Ruller Kinder unterrichtet. Oberhalb der Schule liegt die alteingesessene Tischlerei Trame, heute vorwiegend bekannt durch den Saunabau.
An einem östlichen Abzweig der „Stiegte“ auf der Anhöhe stand bis 1945 ein kleines Gebäude, das dem letzten Kriegsgefecht in Rulle zum Opfer fiel. Der Ruller Chronist Heinrich Spannhorst schreibt über den 3. April 1945, als englische Truppen im Anmarsch waren: „Gegen 6 Uhr kam der Feind von Lechtingen her, am Stüveschacht vorbei, über den Grutthügel nach Rulle. Wir standen inzwischen halbwegs zum Spielplatz in Ost-Rulle und beobachteten die Einfahrt der feindlichen Panzer. Gegen halb 7 Uhr abends erscheint dann in langsamer Fahrt die Spitze der Fahrzeuge in der Kurve bei Große Schawe. Wiederum feuert das MG einige Schüsse, dann fahren die ersten kleinen Panzer an. Mit etwa 20 bis 30 km Stundengeschwindigkeit kommt nun in ununterbrochener Reihe Fahrzeug auf Fahrzeug. Die Kette reißt nicht ab. Plötzlich ertönen einige Schüsse aus dem Loh. Die ersten Wagen nehmen sofort das Feuer auf in Richtung Ww. Vennemann, von wo sie Feuer erhalten hatten. Das kleine Haus stand sofort in hellen Flammen.“
Wer die letzten Kämpfer waren, die sich im Hause Vennemann verschanzt hatten, ist nicht überliefert. Sie wurden offenbar von den Engländern gefangen genommen. Das kleine Haus, in dem die Witwe Vennemann wohnte, war das Elternhaus des langjährigen Ruller Gemeindedirektors Franz Vennemann. In der Nachkriegszeit wurden anstelle des zerstörten Hauses hier zunächst Baracken errichtet.
von Joachim Dierks
Quelle: NOZ vom 6.8.2016