Als in Rulle noch Zigarren gepresst wurden.

Loading

Die Zigarrenfabrik von der Kirche aus gesehen. Foto: Erich Raudisch, Archivgruppe Wallenhorst
In Spitzenjahren verließen drei Millionen „Lungentorpedos“ die Ruller Fabriken

Kaum noch bekannt ist, dass Rulle einst ein Hotspot der Zigarrenherstellung im Osnabrücker Land war. Bis zu sechs sogenannte Zigarrenfabriken und ungezählte Heimarbeiterinnen-Stuben beschäftigten sich mit dem Wickeln, Rollen, Kleben und Pressen von Zigarren.

Von Joachim Dierks

WALLENHORST Warum ausgerechnet Rulle? So ganz schlüssig können das die heimatkundlichen Aufsätze von Johannes Lorenz, Martin Joseph und Andreas Albers nicht beantworten. Allgemein gilt, dass Norddeutschland wegen der Nähe zum wichtigen Tabak-lmporthafen Bremen bevorzugt war. Die Nähe zur Weser hat Bünde groß gemacht, wo um 1920 mehr als 100 Tabakmanufakturen existierten. Die Zigarrenherstellung ließ sich nicht mechanisieren und industriell zentralisieren, sie blieb Handarbeit. Und so wurde dezentral überall dort gefertigt, wo es viele billige Arbeitskräfte gab.

Wenn Bünde das Mekka der deutschen Zigarrenindustrie war, dann war Osnabrück mindestens das Medina. Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts verzeichnete Osnabrück über 30 „Cigarrenfabriken“. Nach dem Niedergang der Leinenherstellung und vor der Etablierung der Schwerindustrie waren die Zigarrenfabriken die wichtigsten Arbeitgeber. Dann kam es aber so, dass der Magistrat die Beschäftigung von Frauen in Tabakfabriken untersagte. Er sah in ihnen „Pflanzschulen der Armut“, weil die Frauen bei ganztägiger Beschäftigung mit Tabak ihre Pflichten in Haus und Familie vernachlässigen würden.

Daraufhin verlegten einige Fabrikanten ihre Betriebsstätten ins Umland. Im Tabakmuseum Bünde wird die Legende erzählt, dass die Tabakunternehmer Gebrüder Andre auf der Suche nach Standorten durch Westfalen reisten. Beim Sonntagskirchgang schauten sie, wo die Leute am ärmlichsten aussahen. Dort beschlossen sie, eine Niederlassung aufzumachen.

In Heimarbeit

 Ob dieses Kriterium auf Rulle zutraf, sei einmal dahingestellt. Arme Heuerlingsfamilien gab es im Osnabrücker Land genug. Um über die Runden zu kommen, webten viele Frauen im Haus nach der Feldarbeit Flachs und Leinen. Dann nahmen Baumwollimporte und die Mechanisierung der Webereien ihnen diese Arbeit weg. Da war folglich das Rollen von Zigarren ein willkommener Ersatz. Auch viele Kinder wurden in der Heimarbeit beschäftigt. Wenn der tägliche Weg nicht zu weit war, arbeiteten die Frauen direkt in den Zigarrenfabriken.

In Osnabrück und Umland zählte man in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 104 Tabak- und Zigarrenfabriken, neben Rulle auch etwa in Beim und Dissen. Standorte der Ruller Zigarrenfabriken waren auf dem Hof Meyering (bis 1930), die Fabrik Massmann vor dem Bruch („Mass‘ m Fabrik“; bis 1907), Helmichs Fabrik in Rulle-Ostenort, die recht kleine Fabrik von Haffkemeier auf dem Haupthügel und die größere von Diersmann am Fuße desHaupthügels im Eck von Stadtweg und Am Haupthügel (später BDM-Heim, Landvolkhochschule, Marienheim, Café Wittekindsburg und heute Westerfeld- Seniorenwohnanlage). Die bedeutendste war jedoch die Zigarrenfabrik „up`n Klauster“, gelegen neben der Kirche am Rande des ehemaligen Klosterbezirks im Eck der heutigen Klosterstraße und Am Eichholz. Eigentümer des Fachwerkhauses war Gastwirt Spannhorst. Er hatte an die Firma Clemens Buff aus Bünde verpachtet.

Der Arbeitsraum, die eigentliche „Fabrik“, bot etwa 30 Arbeitskräften Platz. Außer dem Zigarrenmeister, der als Statthalter der Firma Buff fungierte, gab es hier nur Frauen. Ihre tägliche Arbeitszeit betrug zwölf Stunden, von 7 bis 19 Uhr, bei einer Stunde Mittagspause. Der monatliche Verdienst lag bei 70 bis 80 Mark, wenn man eine Tagesleistung von 200 Zigarren schaffte. Das war um einiges mehr, als man als Magd in der Landwirtschaft bekam. Ruller Zigarren wurden erst zu Buffs Hauptniederlassung in der Seminarstraße in Osnabrück geschafft und gelangten von dort bis ins Emsland, nach Schleswig-Holstein und Mecklenburg.


Verschwundene Orte
Nach dem Abschluss der Serie „Was sagt uns der Straßenname?“ befasst sich unsere neue Serie ebenfalls mit der Geschichte der Großgemeinde Wallenhorst und ihrer vier Ursprungsgemeinden. Sie führt uns zu verschwundenen Orten, die einst bedeutend waren, über die die Zeit aber hinweggegangen ist. Teils sind trotz Verfalls oder Abbruchs noch Spuren aufzufinden, teils hat eine Neubebauung nichts als die Erinnerung bei älteren Mitbürgern übrig gelassen. Nach ersten Beiträgen über Gastwirtschaft und Schmiede der Familie Kirchhof neben der Alten Alexanderkirche und die alte Hollager Schule erinnern wir heute an die „Tabakindustrie in Rulle.

Im März 1945 sank Buffs Osnabrücker Betrieb in Schutt und Asche. Der Eigentümer verzichtete auf einen Neubeginn nach dem Krieg. Die große Zeit der Zigarren war vorbei. Der Trend ging zur Zigarette, die sich maschinell und kostengünstig herstellen ließ. Damit kam auch das Aus für die Ruller Zigarrenfabrikation, die in Spitzenjahren mehr als drei Millionen Stück hervorgebracht hatte. Ein etwa 100 Jahre währender Abschnitt der heimischen Wirtschaftsgeschichte fand sein Ende.

Ehemalige Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter zerstörten die Produktionsmittel und verbrannten alles, was sie nicht gebrauchen konnten. Später zog das Gemeindebüro in das Gebäude. Um 1960 wurde es abgerissen, die Kirchengemeinde baute hier ihr Pfarrhaus. Aber auch dieses Pfarrhaus gehört inzwischen in die Kategorie der verschwundenen Orte. Es wurde kürzlich durch einen Neubau ersetzt.

Johannes Lorenz beschreibt im Heimatjahrbuch 1985: „Pünktlich kamen die Mädchen zur Arbeit, pünktlich gingen sie auch wieder weg. Man hätte die Uhr danach stellen können. Wenn die Holzschuhe auf der Straße klapperten, wusste man: „Die Fabrikwichters kuomet“. Die Mädchen trugen bei der Arbeit einheitliche Kittel und weiße Mützen. Es durfte kein Haar in die Arbeit fallen. Wenn der Meister ein Haar in der Zigarre fand, war was los: „Dat stinket doch! Die Zigarre schmecket doch nich!“

Die Arbeiterinnen  

Immer acht Mädchen saßen an einem Tisch. Das Wickelmachen und Zigarrenrollen ging ihnen flink von der Hand. Sie sangen gern bei der Arbeit, entweder Schlager wie „Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren“ oder auch Wallfahrtslieder, wenn sie in Telgte zur Wallfahrt gewesen waren. Manche kannten die ganze lateinische Messe auswendig. Auch auf dem Nachhauseweg wurde gesungen, oftmals zweistimmig. Ganz so fromm ging es an Fastnacht nicht zu.

Dem Ruller Pfarrer Wessels war die jährliche „Tanzlustbarkeit“ ein Dorn im Auge. 1866 teilte er dem Bischöflichen Generalvikariat mit, dass sie „manches Unheil zur Folge“ hätte, „und soll auch für dieses Jahr eine Erneuerung desselben zu befürchten Sein“. Um diese Veranstaltung zu unterbinden, bat Pfarrer Wessels darum, für die drei Fastnachtstage das vierzigstündige Gebet einzuführen. Die Erlaubnis wurde vom Bischof erteilt.

Quelle NOZ v. Samstag, 21. Juli 2018