Denkmal gelungener Integration

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Die Frankensteiner Straße erinnert an die erste Heimat vieler Hollager Neubürger der Nachkriegszeit

Als Frankensteiner Straße wurde in den 1960er-Jahren sowohl in Hollage als auch in Rulle eine Siedlungsstraße der Nachkriegszeit benannt.

Von Joachim Dierks

WALLENHORST
Als 1972 im Zuge der Gebietsreform beide Landgemeinden Teile der neuen Großgemeinde Wallenhorst wurden, musste eine der beiden Straßen ihren Namen ändern. Die Hollager Frankensteiner Straße behielt ihren Namen, die Ruller wurde in Ermländer Straße umbenannt.

Anlass der Namensgebung war die Ansiedlung zahlreicher Vertriebener aus dem niederschlesischen Städtchen Frankenstein, nachdem Schlesien im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 unter polnische Verwaltung gestellt worden war und die polnischen Behörden nichts Eiligeres zu tun hatten, als mit der Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung vollendete  Tatsachen zu schaffen.

Die Kreisstadt Frankenstein liegt etwa 60 Kilometer südlich von Breslau. 1939 hatte sie 10900 überwiegend katholische Einwohner. Heute heißt die Stadt Zabkowice Slaskie und zählt rund 15500 Einwohner.

Im Frühjahr 1946 erreichte mit vielen anderen Familien aus Frankenstein auch der heute in der Sachsegge wohnende Norbert Scholz die kleine Landgemeinde Hollage. Als 13-Jähriger hatte er miterlebt, wie seine Familie in Frankenstein von der polnischen Verwaltung aufgefordert worden war, am anderen Morgen pünktlich um sechs Uhr mit begrenztem Gepäck vor der Tür zu stehen und sich zum Abtransport bereitzuhalten. Sie hatten keine Wahl, die Vertreibung wäre notfalls mit Waffengewalt durchgesetzt  worden. Am Bahnhof stand ein Eisenbahnzug mit Viehwaggons bereit. Nach mehrtägiger Fahrt unter menschenunwürdigen Bedingungen endete der Transport in Hüter, von wo es mit Lkw weiter nach Hollage ging. Katholische Gemeinden wie Hollage und Rulle waren auch deshalb als Zufluchtsorte bestimmt worden, weil die Integration unter Menschen gleichen Glaubens leichter zu gelingen versprach.

Der Zusammenhalt der schlesischen Familien aus Frankenstein in der neuen Heimat war groß. Man traf sich regelmäßig im Saal Strößner. Unter der Leitung von Herbert Müller fand sich ein liturgischer Chor der Frankensteiner zusammen, der zahllose Gottesdienste in der Josefskirche begleitete. Sie einte auch ein 360 Jahre altes Gelübde ihrer Vorfahren aus der Pestzeit, das sie mit in die neue Heimat brachten. Vor 1945 waren sie alljährlich am Sonntag nach Maria Geburt im September zum Marienwallfahrtsort Wartha südlich von Frankenstein gepilgert. Nun wurde Rulle zum neuen Wallfahrtsort der Frankensteiner.

In der Meistermannschaft von Blau-Weiß Hollage gehörte in den Nachkriegsjahren mit Helmut Graf ein Frankensteiner zu den Leistungsträgern. Dessen Vater Heinrich Graf wurde einer jener Fans, die bei jedem  Heimspiel von Blau-Weiß am Benkenbusch standen. Den Älteren in Hollage dürfte auch noch der Frankensteiner Ernst Külich in Erinnerung sein, der als gewählter Flüchtlingsbetreuer mit am Sitzungstisch saß, wenn im Wohnungsausschuss des Gemeinderates die Wohnungsprobleme der damaligen Zeit verhandelt wurden.

Die Frankensteiner wurden fester Bestandteil der Hollager Bevölkerung. Namen wie Hielscher, Theusner,  Freudenberg, Förster und Knür verraten nur noch dem Eingeweihten den besonderen Migrationshintergrund dieser ansonsten vollständig assimilierten Familien. Unser bislang noch nie zuvor veröffentlichtes Foto zeigt einen gemischten Chor aus Frankensteiner und Hollager Jugendlichen, die bei der Grundsteinlegung der Josefssiedlung im September 1949 auftraten.

In der Josefssiedlung fanden auch Frankensteiner Familien eine neue Heimat. Die Frankensteiner Straße ist in ihrem östlichen Abschnitt Teil der Josefssiedlung.

Quelle: NOZ vom 4.2.2017