Tatort Schulweg Lechtingen

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Das Gedenkkreuz und die Sockelinschrift für die ermordeten Kinder am Lechtinger Schulweg. Foto: Joachim Dierks

Neue Erkenntnisse über den Kindsmörder Ludwig Tessnow

Wallenhorst
Wer den Schulweg von der Grundschule Lechtingen aus nach Osten verfolgt, kommt kurz vor Erreichen der alten Schule auf dem Lechtinger Berg durch ein Wäldchen. Rechterhand wird er etwas zurückliegend ein Kruzifix sehen. Es ist das Gedenkkreuz für den Kindsmord, der hier am 9. September 1898 geschah. Über den Mörder Ludwig Tessnow gibt es jetzt neue Erkenntnisse.

In einem früheren Artikel zur Geschichte des Schulwegs wurde eher beiläufig geschrieben, dass der Doppelmörder Ludwig Tessnow überführt, zum Tode verurteilt und 1904 im Gerichtsgefängnis Greifswald hingerichtet worden sei. Rückmeldungen einiger Leser erreichten die Redaktion, die einen von unserer Darstellung abweichenden Kenntnisstand hatten über die Art und Weise, wie der Serienmörder Ludwig Tessnow aus dem Leben schied.

Lebenslange Haftstrafe
So meldete sich auch der Historiker Andreas Albers, der sich schon länger mit der Tat und ihren Folgen befasst hatte und davon ausging, dass das Todesurteil noch im Kaiserreich in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt worden war. Demnach war Tessnow erst in der Nazizeit ums Leben gekommen, und zwar 1939 oder 1940 als Opfer des NS-Euthanasieprogramms. Im Internet konnte man aber auch weiterhin sehr unterschiedliche Versionen über Tessnows Lebensende finden.

Durch Genickschuss getötet
Doch nun scheint Klarheit eingekehrt zu sein. Albers fand in der Fachzeitschrift „Kriminalistik“ einen Aufsatz von Ingo Wirth und Jan Armbruster, die unter anderem Akten der Landesheilanstalt Stralsund auswerteten und Belege dafür fanden, dass Tessnow 1939 als „ungeheilt“ aus Stralsund in eine westpreußische Anstalt verlegt wurde. Er gehörte dort mit zu den ersten Kranken, die in den Wäldern von Groß-Piasnitz (Kaschubei westlich von Danzig) im Rahmen des sogenannten Euthanasieprogramms, der „Aktion T 4“, durch Genickschuss getötet wurden.

Der Tathergang
Unstrittig ist der in mehreren Gerichtsinstanzen festgestellte Tathergang: Die beiden siebenjährigen Lechtinger Mädchen Elise Langemeyer und Elise Heidemann wurden morgens auf dem Weg zur Schule von Tessnow überfallen und getötet. Die Eltern erkundigten sich mittags in der Schule, warum ihre Töchter noch nicht zurück seien. Da mussten sie erfahren, dass die beiden dort gar nicht erschienen waren. Bei der Suchaktion fand man bald die Leiche der Elise Heidemann und gegen 19 Uhr auch die des anderen Mädchens. Beide waren entkleidet und auf unvorstellbar grausame Weise zerstückelt worden.

Rötliche Flecken auf Kleidung
Noch am selben Abend geriet der reisende Tischlergeselle Ludwig Tessnow (geboren 1872) in Verdacht, weil man einen Knopf seiner Jacke am Tatort fand und die Kleidung rötliche Flecken aufwies. Die Flecken erklärte er als Tischlerbeize. Man musste ihn aus der Haft entlassen, weil der Nachweis von Blutspuren noch nicht möglich war. Drei Jahre später wurde Tessnow erneut verhaftet, als der Staatsanwalt ihm eine Mordserie auf Rügen zur Last legte. Die wiederum auf seiner Kleidung festgestellten dunkelroten Flecken bezeichnete er als altes Rinderblut und eingetrocknete Tischlerbeize. Dem Ersten Staatsanwalt von Greifswald kam die Sache bekannt vor. Er zog die Akten aus Osnabrück bei. Der Lechtinger Kindermord wurde neu aufgerollt.

Todesstrafe in lebenslange Haft umgewandelt
Mittlerweile entdeckte neue Untersuchungsmethoden erlaubten jetzt den Nachweis von Menschenblut. Tessnow wurde des Doppelmordes in Göhren auf Rügen wie auch desjenigen in Lechtingen überführt und 1902 zum Tode verurteilt. Das Todesurteil sollte am 17. Oktober 1903 vollstreckt werden. Als der Staatsanwalt dem Verurteilten davon Mitteilung machte, brach Tessnow in verzweifeltes Geschrei aus und tobte die ganze Nacht hindurch. Mit Verdacht auf einen epileptischen Anfall wurde er in die Greifswalder Uni-Klinik eingewiesen. Die Hinrichtung wurde verschoben, weil sie nicht an einem Kranken vollzogen werden durfte. Psychiatrische Untersuchungen und eine Wiederaufnahme des Verfahrens führten dazu, dass 1907 die Todesstrafe in lebenslange Haft in einer geschlossenen Anstalt umgewandelt wurde.

von Joachim Dierks

Quelle: NOZ vom 27.4.2017