Ein Spaziergang auf der Kanalsohle des leer gelaufenen Stichkanals führt die beiden Wasserbau-Ingenieure zur Schleusenkammer im Hintergrund. Der Flutgraben rechts neben der Schleusenkammer ist bereits durch eine Spundwand verschlossen.
Vor 50 Jahren führte das Hasehochwasser zu einer Flut-Katastrophe
Von Joachim Dierks
WALLENHORST/OSNABRÜCK.
Eigentlich ist der Kanal kein Fließgewässer. Doch vor 50 Jahren hielt sich der Stichkanal nicht an diese Schulbuchweisheit. Eine gewaltige Flutwelle schoss auf die Schleuse HolIage zu, nachdem das Hasehochwasser den trennenden Damm aufgerissen und sich in den Kanal ergossen hatte. Die Flutwelle war so mächtig, dass sie fünf Kilometer weiter die Hollager Schleuse außer Gefecht setzte.
Am 5. Dezember 1960 war erstmals das eingetreten, was die preußischen Wasserbauingenieure sehr wohl im Hinterkopf hatten, als sie vor mehr als hundert Jahren den Stichkanal projektierten. Aber sie hatten keine andere Wahl. Sie standen vor der Aufgabe, den Stichkanal als Zubringer zum Mittellandkanal an die von Hügeln umgebene Stadt Osnabrück heran zuführen. Die einzige Möglichkeit war der schmale Durchlass zwischen den Piesberg-Ausläufern und der Hase.
Für den Kanalbau musste die Hase auf 1,2 Kilometer Länge nach Westen verschoben werden. Die beiden Gewässer verlaufen in enger Nachbarschaft von teilweise nicht einmal hundert Metern parallel. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches – an vielen Stellen in Deutschland hat man das ebene Gelände, das sich Flüsse sich für ihren Verlauf ausgesucht hatten, dazu genutzt, künstliche Wasserstraßen danebenzulegen. Aber: Das natürliche „Atmen“ des Flusses, der mal wenig und mal viel Wasser führt, darf den Wasserspiegel des Kanals nicht beeinträchtigen.
Denn für den Schiffsverkehr und den Betrieb der Schleusen ist es unabdingbar, dass der Wasserstand des Kanals sich nur in engen Grenzen von wenigen Zentimetern bewegt.
Hochwasserschutzdämme sorgen dafür, Fluss und Kanal voneinander zu trennen. So auch in Haste, Als am 5. Dezember 1960 nach tagelangen Regenfällen die Hase einen Rekord-Pegelstand von 2,50 Metern über dem Kanalspiegel erreichte, hielt der Damm dem enormen Druck nicht mehr stand und brach. 400 Meter nördlich der Haster Schleuse, etwa dort, wo früher die Bootshäuser der Rudervereine standen und heute der Übernachtungsplatz für Landfahrer ist, bahnte sich die Hase ihren Weg zurück in ihr jahrhundertealtes Bett aus Zeiten vor dem Kanalbau.
Man vermutete hinterher, dass Kaninchengänge den Deich geschwächt hatten. Denn hoch genug war er, es war noch nicht zu Überströmungen gekommen.
„Die Schütze wurden gezogen, aber das reichte natürlich nicht“ Rolf Mamerow, Schleusenwärter
Hubert Bartke kann sich den Tag der Katastrophe gut merken, denn es war sein 30. Geburtstag. Als Betriebsmaurer der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung sollte er um halb acht Uhr morgens seinen Dienst an der Haster Schleuse antreten. Auf dem Fahrrad näherte er sich dem Kanal in Pye. Schon von Weitem sah er etwas Weißes auf dem Wasser. „Ich dachte: Verflixt, so kalt ist es doch noch gar nicht, dass da jetzt schon Eisschollen treiben.“ Näher gekommen, sah und hörte er, dass es schäumende und tosende Wassermassen waren. Dieses Bild des plötzlich wild gewordenen Kanals, wo der doch sonst immer so friedlich war, hat sich ihm tief eingeprägt. Er meldete sich auf der Haster Schleuse, wurde dann aber sogleich zur Hollager Schleuse beordert, die in eine Notlage geraten war.
Rolf Mamerow, einer der beiden heutigen Schleusenwärter, kennt den Ablauf der Ereignisse aus den Erzählungen seiner Vorgänger: „Die Schütze wurden gezogen und der Umlauf frei gemacht, aber das reichte natürlich bei Weitem nicht.“ Durch den Umlauf wird sonst das bei der Schleusung verloren gegangene Wasser wieder in die obere Kanalhaltung zurückgepumpt. Der geringe Querschnitt konnte der Flutwelle so gut wie nichts von ihrer Angriffskraft nehmen. Hätte man einfach beide Schleusentore aufmachen können, um so das anströmende Wasser einfach durchzuleiten? „Das ging nicht. Eine technische Sperre sorgt dafür, dass nicht mehr als ein Tor gleichzeitig geöffnet werden kann“, erklärt Mamerow.
So rannte nun die Flut gegen das geschlossene obere Tor, kam dort nicht weiter und bahnte sich einen neuen Weg rechts neben der Schleusenkammer her. Das Betriebsgebäude und das Maschinenhaus wurden weggerissen, das Wohnhaus des Schleusenwärters halbiert Hubert Bartke war eingeteilt, das persönliche Hab und Gut des Schleusenwärters aus dem Wohnhaus zu bergen. „Der Giebel zum Kanal hin war schon ins Wasser gestürzt, da haben wir noch Sessel rausgetragen. Dann sagte der Amtsvorsteher: Jetzt ist Schluss, und dann durfte keiner mehr rein. Aber die meisten Sachen haben wir noch gerettet“, erinnert sich Bartke.
Glück im Unglück: Menschen kamen nicht zu Schaden. Die Materialzerstörungen waren allerdings immens. 3,8 Millionen DM kostete es, alles zu reparieren. In Tag- und Nachtschicht wurden die Löcher gestopft, 80000 Kubikmeter Hinterfüllungsboden der Schleuse ersetzt, ein Hilfspumpwerk errichtet und der versandete Querschnitt des Kanals unterhalb der Hollager Schleuse wieder frei gebaggert. Zwei Monate nach dem Unglück hieß es: „Wasser marsch!“ Durch eine provisorisch angelegte offene Holzrinne strömte das erste Wasser in den leer gelaufenen mittleren Kanalabschnitt zurück, die trocken gefallenen Kähne schwammen auf. Anfang Februar 1961 konnten Schiffe wieder den Osnabrücker Hafen anlaufen.
Als eine Konsequenz des Dammbruchs wurde die Hase zwischen der Kläranlage und der Alten Eversburg weiter nach Südwesten verlegt. Damit war die Gefahr eines Hasedurchbruchs in diesem stadtnahen Bereich gebannt. Aber auf Wallenhorster Gebiet zeigten sich weitere Schwachpunkte. Am 12. März 1981 kam es zum Übertritt 350 Meter nördlich der Hollager Schleuse. Der Hochwasserschutzdeich wurde auf hundert Metern komplett weggespült. Weil nun sowieso Grundlegendes passieren musste, zog man damals die geplante Kanalverbreiterung in dem Bereich vor. Auf Ausbaubreite wurde eine Spundwand eingerammt. Sie hat beim August-Hochwasser dieses Jahres dem Druck standgehalten, wurde wegen der „Jahrtausendhöhe“ des Pegels allerdings überströmt. Die Erdmassen des Deiches wurden weggespült, wie ein abgenagter Knochen blieb lediglich die Spundwand stehen.
Neuere Überlegungen zum Hochwasserschutz gehen dahin, mittels Überlaufschwellen einen kontrollierten Übertritt von Hasewasser in den Kanal zu gestatten. Dann würde der gesamte Mittellandkanal als ein immenser Hochwasserspeicher gezielt in das Hochwassermanagement der Mittleren Hase einbezogen.
Quelle: NOZ vom 7.12.2010