Wer war Hans Calmeyer?

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Gesprächsabend im Heimathaus Hollager Hof mit Buchautor Mathias Middelberg

Von Joachim Dierks

Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus ist in den Neubaugebieten der Gemeinde Wallenhorst weiterhin stark vertreten. Im Gebiet „Witthügel“ in Hollage sind Siedlungsstraßen nach Willy Brandt, Bernhard Schopmeyer und Hans Calmeyer benannt. Um Letzteren geht es in einem Gesprächsabend im Heimathaus am 20, September um 19 Uhr.

WALLENHORST Der Heimat-, Kultur- und Wanderverein Hollager Hof wirft die Frage auf: „Wer war dieser Calmeyer?“ Antwort aus berufenem Munde ist von Mathias Middelberg zu erwarten, CDU-Politiker und Bundestagsabgeordneter. Den juristischen Doktortitel hat er 2003 mit einer Arbeit über „Judenrecht, Judenpolitik und der Jurist Hans Calmeyer in den besetzten Niederlanden 1940-194-5“ erworben. Und angesichts der nicht verstummenden Frage, ob Calmeyer ein „Osnabrücker Schindler“ oder vielleicht doch nur ein Schwindler gewesen sei, hat Middelberg sich noch einmal ausführlich mit Leben und Wirken Calmeyers auseinandergesetzt und 2015 den aktuellen Forschungsstand in der Biografie „Wer bin ich, dass ich über Leben und Tod entscheide? ´Rassereferent´ Hans Calmeyer in den Niederlanden 1941-1945“ niedergelegt.

Der Anwalt Hans Calmeyer (1903-1972) entschied als Beamter der deutschen Besatzungsverwaltung in den Niederlanden täglich über Leben und Tod. Im Sinne der NS-Rassenpolitik sollte er „rassische Zweifelsfälle“ klären, ob also etwa Abkömmlinge aus „Mischehen“ als „Arier“ oder als Juden zu klassifizieren, seien. Was zugleich bedeutete: Rettung oder Deportation ins Vernichtungslager. In ihrer Verzweiflung erfanden Tausende Verfolgte neue Abstammungsgeschichten. Der Jurist hätte diese „Zweifelsfälle“ in Holland genauso entscheiden müssen wie die Behörden in Berlin. Tatsächlich legten seine Mitarbeiter und er andere Maßstäbe an und schafften es, einzelne, aber auch ganze Gruppen vor der Verfolgung zu bewahren auch Anne Franks beste Freundin Jacqueline van Maarsen.

Dicht auf den Fersen war Calmeyer ein anderer (zeitweiliger) Osnabrücker: der SS-Mann Ulrich Grotefend. Im Rasse- und Siedlungs-Hauptamt der SS in Berlin hatte man nämlich Verdacht geschöpft, dass mit den zahlreichen von Calmeyer attestierten „Mischlingen“, also „Halbjuden“ und „Vierteljuden“, etwas nicht stimmen könne. Berlin setzte eine Untersuchungskommission unter Grotefends Leitung ein, die nach Den Haag reisen und dort Calmeyers Fallentscheidungen nachprüfen sollte. Grotefend war promovierter Historiker, ausgebildeter Archivar und Genealogie-Experte. „Bei seinen Vorkenntnissen hätte Grotefend sehr schnell durchschaut, was da für eine „Täuschungsmaschine im Gange war“, ist sich Middelberg sicher.

Die Beschlagnahme der Akten im September 194-4stand unmittelbar bevor, als die Luftlandung der Alliierten bei Arnheim auf einmal den Front-Verlauf gefährlich nahe an Den Haag heranschob und die SS andere Sorgen hatte. Sie musste nämlich ihren Dienstsitz Den Haag aufgeben und weiter in Richtung deutsche Grenze verlegen. Nur aufgrund des Kriegsverlaufs wurde Grotefends Mission abgebrochen und blieben also Calmeyers manipulierte Abstammungsentscheidungen unentdeckt.

Dennoch ist Calmeyer bis heute umstritten. Einige Historiker sehen in ihm letztlich ein funktionierendes Rädchen im Getriebe der Mordmaschinerie und billigen ihm allenfalls zu, „situativ“ oder „zufällig“ lebensrettend entschieden zu haben. Mathias Middelberg legt an konkreten Fällen die Handlungsweisen und -spielräume des „Rassereferenten“ dar. Er ist der Meinung, dass Calmeyer mit seiner Strategie scheinbarer Anpassung, aber tatsächlicher Sabotage mehr als 3000 Menschen, wahrscheinlich bis zu 5000, aus Überzeugung das Leben gerettet hat weit mehr Menschen jedenfalls, als der Emaillewarenfabrikant Oskar Schindler es mit seiner weltberühmten Liste vermochte.

Zu Recht habe die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ihm den Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ verliehen, meint Middelberg. Und er ist glücklich über den einstimmigen Beschluss des Osnabrücker Stadtrats im Dezember 2017, im Museumsquartier die Villa Schlikker einst Nazi-Hauptquartier in ein Hans-Calmeyer-Haus umzuwidmen. Nach einem noch zu entwickelnden Konzept soll hier die regionale NS-Vergangenheit mit einem Schwerpunkt auf Calmeyers Wirken dargestellt werden.

Quelle: Neue Osnabrücker Zeitung v. 14.09.2018